Vor den Vorhang: Sandra Folie

Steckbrief

Benutzername:
Sandra Folie

Anmeldedatum bei Wikipedia:
24. Mai 2019

Vor allem aktiv auf:
de.wikipedia

Interview

Du bist über WikiGap zur Wikipedia gekommen und hast dich schnell eingefunden, wie war das für dich?

Ja, genau. Ich bin eigentlich ziemlich zufällig zum WikiGap Edit-a-thon 2019 in der Schwedischen Botschaft in Wien dazu gestoßen und war sehr verwundert, die einzige Teilnehmerin der (Haupt-)Universität Wien zu sein. Ich habe einen Artikel über Linda Christanty, eine indonesische Autorin und Journalistin, geschrieben und einen weiteren über die österreichische Logistikunternehmerin Heidi Senger-Weiss begonnen – meine ersten Artikel in der Wikipedia! Ich fand es faszinierend, dass bald nach der Veröffentlichung von anderen Editor*innen kleinere Korrekturen vorgenommen und Links auf die Seite gesetzt wurden. Einige haben sich sogar für das Anlegen des Artikels bedankt. Dass mein ungeplanter Einstieg ein ganz und gar positives Erlebnis war, lag sicher auch an der guten Betreuung durch WMAT während des Edit-a-thons.

Hat sich deine Mitarbeit im Lauf der Zeit verändert? Und kannst du dich an ein prägendes Wikipedia-Erlebnis erinnern?

Meine Mitarbeit ist insofern gleich oder ähnlich geblieben, als ich nach wie vor primär Artikel über Frauen* oder frauenrelevante Themen schreibe/verbessere. Es ist mir ein großes Anliegen, an der Verkleinerung des WikiGaps mitzuwirken und meine Motivation, an der Wikipedia mitzuarbeiten, ist klar feministisch motiviert. Verändert hat sich meine Mitarbeit vor allem dadurch, dass ich begonnen habe, die Wikipedia in meine Lehre zu integrieren.

Im Sommersemester 2020 habe ich an der Universität Wien das Seminar „‚Frauen* in Rot‘. Anwendungsorientierte Wikipedia Studies mit Fokus auf den Gender Bias in der Wikipedia“ angeboten. Die Lehrveranstaltung wurde vor allem von Studierenden der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Gender Studies besucht und es sind daraus einige sehr schöne und vielseitige Artikel über Frauen hervorgegangen: Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen, Aktivistinnen, Politikerinnen und auch ein Artikel über Eva Frank, die einzige Frau, die je als jüdischer Messias galt. Gemäß der Relevanzkriterien für religiöse Persönlichkeiten – Heiliggesprochen (nur christlich!) oder Sektenführer*in über 200.000 Personen – wäre letztere ‚rausgeflogen‘ und auch ein anschließender Relevanzcheck hatte ergeben, dass die Funktion des bzw. der einzigen jüdischen Messias, zusammen mit der zeitweisen Führung der frankistischen Sekte, nicht genug für einen eigenständigen Artikel sei. Der Artikel wurde den vorsichtig negativen Prognosen zum Trotz am 6. August 2020 veröffentlicht und erfreut sich mit seinen über 500 Aufrufen einer – in Anbetracht des sehr spezifischen Themas – ganz passablen Beliebtheit.

Meine bisher prägendsten Wikipedia-Erlebnisse hängen eigentlich alle mit der Lehrveranstaltung zusammen. Eine meiner Studierenden war zum Beispiel ziemlich geknickt, nachdem sie den Namen einer Frau, die ihrer und auch meiner Einschätzung nach ‚relevant genug‘ für einen Wikipedia-Artikel war, zwei Mal rot verlinkt hatte und der Link beide Male binnen kürzester Zeit wieder entfernt worden war. Ich habe mich also hingesetzt und einen kurzen Artikel über diese Frau – die Germanistin Beate Kennedy – geschrieben und sie so in einen Blaulink verwandelt. Dass dieser Artikel bald darauf für die Präsentation auf der Wikipedia-Hauptseite in der Rubrik „Schon gewusst?“ vorgeschlagen wurde und im Mai auch dort erschien, war eine schöne Bestätigung und vor allem auch eine gute Motivation für die Studierenden.

Für wie wichtig hältst du den Austausch mit anderen Wikipedianerinnen und Wikipedianern, sei es online oder offline?

Für sehr wichtig. Offline hatte ich bislang leider noch relativ wenig Kontakt mit anderen Wikipedianer*innen, da nach meinen ersten beiden Edit-a-thons die COVID-Pandemie zu wüten begann und ja immer noch wütet. Digital habe ich z.B. im Zuge meiner ersten Kandidatur beim Wikipedia-Schreibwettbewerb wirklich konstruktives Feedback von anderen, erfahreneren Editor*innen bekommen. Das hat mir sehr geholfen.

Vor einigen Monaten haben mich dann feministische Wiki-Kolleg*innen an Bord des FemNetz (Arbeitstitel) geholt, das aus verschiedenen Untergruppen und Einzelpersonen besteht, die sich lokal und international zu Themen rund um intersektionalen Feminismus und mehr Diversität auf Wikipedia engagieren. Wir haben vom 29.–31. Januar 2021 online ein erstes Netzwerk- und Fachtreffen zu feministischen Anliegen mit Fokus auf Austausch, Vernetzung sowie gegenseitige Unterstützung aktiver Gruppen und Schreibenden auf Wikipedia durchgeführt. Das FemNetz richtet sich vor allem an Frauen, sich weiblich identifizierende sowie non-binäre Personen. Alle Menschen und Geschlechter sind aber willkommen, sofern sie sich an die Safe Space Policy halten.

Damit du dich noch in 20 Jahren engagierst, müsste sich etwas in der Wikipedia ändern – oder eben nicht?

Stillstand ist selten eine gute Lösung. Es gibt in der Wikipedia noch sehr viel Potential, besser und inklusiver zu werden. Der WikiGap müsste sich verkleinern – sowohl im Hinblick auf die Themen/biografischen Subjekte (derzeit sind ca. 16% Prozent der Biografien in der Wikipedia Frauenbiografien, Stand 2020), über die geschrieben wird, als auch im Hinblick auf die Schreibenden, die immer noch größtenteils – zu ca. 90 Prozent (Stand 2018) – Männer sind bzw. sich in der Wikipedia als solche ausgeben. Dass die Zahlen so sind, wie sie sind, hat strukturelle Gründe. Es gibt verschiedene Hürden, die Frauen* die Mitarbeit erschweren. Wenn schon einige meiner Studierenden – also eine sehr gebildete, privilegierte und auch an den Umgang mit Kritik gewöhnte Gruppe – vom rauen Ton in Diskussionen dermaßen abgeschreckt werden, dass sie sich gar nicht erst trauen, einen Artikel zu veröffentlichen, ist das für mich ein Zeichen, dass einiges schiefläuft.

Auch sprachlich sehe ich noch großes Verbesserungspotential. In der deutschsprachigen Wikipedia hat sich eine geschlechtersensible und antirassistische Sprache noch nicht ausreichend durchgesetzt. So herrscht in der deutschsprachigen Wikipedia z.B. immer noch das generische Maskulinum vor und im Zuge des Seminars sind wir sogar auf einen Artikel über eine afro-amerikanische Autorin gestoßen, in dem das N-Wort vorkam.

Der gender bias zeigt sich darüber hinaus aber auch in den Kategorien, in die Artikel eingeordnet werden. Zwar kann eine Person mittlerweile nicht mehr nur als Mann oder Frau, sondern auch als nichtbinär oder mit „Geschlecht unbekannt“ kategorisiert werden, die meisten anderen Kategorien, die Nationalitäten oder Berufe bezeichnen, sind jedoch nur in der männlichen Form verfügbar: So kann eine Frau oder nichtbinäre Person immer nur Österreicher oder Deutscher, Filmschauspieler, Fotograf, Autor oder Journalist usw. sein – außer sie* ist Geisha, Hexe, Salonnière, eine Ehefrau Mohammeds, First oder Second Lady der Vereinigten Staaten usw. Jene Kategorie, die Sexarbeiter*innen versammelt, heißt aber wiederum „Prostituierter“, obgleich sich in ihr, mit Ausnahme eines Zuhälters und eines männlichen Sexarbeiters, nur Artikel über Frauen* finden.

Es fühlt sich für mich einigermaßen absurd an, dass ich an der Universität Wien angehalten bin, über Wissenschaftler*innen zu sprechen/schreiben, wenn ich aber einen Artikel über eine Professorin in der Wikipedia veröffentliche, gezwungen bin, diese Person als Wissenschaftler, Autor, Hochschullehrer, Österreicher und Frau zu kategorisieren. Sprache bildet Realität nicht nur ab, sondern formt sie auch wesentlich mit. Ich würde mir daher wünschen, dass die Sprache in der deutschsprachigen Wikipedia künftig inklusiver und weniger binär wird.


 

Wer sind die Menschen, die ehrenamtlich zur Wikipedia beitragen? Anlässlich des 20. Wikipedia-Geburtstags holen wir engagierte Wikipedianerinnen und Wikipedianer in einer Interview-Serie vor den Vorhang.

Alle Beiträge gibt es hier zum Nachlesen.